„… ohne Frauen baut man keine Gemeinde“ – dieses Zitat beschreibt eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Denn ebenso wie es heute Schwestern gibt, die sich in und für die Gemeinde engagieren, hat es zu allen Zeiten „Schafferinnen“ gegeben, ohne die der Aufbau und die Pflege einer Gemeinde nicht funktioniert hätten. Dass wir uns ihrer erinnern, ist aber nicht so selbstverständlich, wie wir vielleicht meinen. Sicherlich können viele Gemeindemitglieder besondere Menschen – Männer wie Frauen – benennen, die für sie persönlich zu Vorbildern oder zu prägenden Figuren geworden sind. Jenseits dieser individuellen Erinnerungen ist unsere Erinnerungskultur aber – und das betrifft ja nicht nur Kirche – männlich geprägt. Was das für einen Vortrag bedeutet, der die Frauen der Gemeinde in den Mittelpunkt stellen soll, liegt auf der Hand: Wir sind hier im Bereich der sog. „Dunkelfeldforschung“ unterwegs.
Die schriftlichen Quellen beschränken sich im Wesentlichen auf die Kirchenbücher und die Chronik zum 100-jährigen Gemeindejubiläum. Letztere nennt auf 182 Seiten 36 weibliche Gemeindemitglieder namentlich. Die Mehrzahl davon aus den ersten drei Jahrzehnten nach Gemeindegründung. Bei den abgedruckten Fotos ist das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Personen noch größer. Wir haben es also mit einer Verzerrung, einem Bias in der kollektiven Erinnerung zu tun. Das ist an und für sich kein neues Phänomen. Man könnte sagen, dass sich die Gemeindechronisten damit in guter Tradition biblischer Autoren sowohl der Evangelien als auch der Apostelgeschichte befinden. Dieser Verzerrung ein wenig entgegenzuwirken und einige der prägenden Frauen der Gemeindehistorie ins Licht der Erinnerung zu holen, ist Ziel dieses Vortrages. Zugleich mag der Blick auf das, was diese Frauen ausgemacht hat und was sie geleistet haben, Gelegenheit geben, über den Wert und die Vielfalt der Formen, in denen christliche Gemeindearbeit auch heute stattfindet, nachzudenken.
Doch nun zur Ersten der „Sheroes“, denen heute ein kleines Denkmal gesetzt werden soll.
Anna Caroline Marie Hilmer, geborene Brandes
Marie kommt ursprünglich aus Braunschweig. Sie ist in ihrer Familie bereits die dritte Generation, die apostolisch ist. Marie heiratet mit 16 Jahren den 11 Jahre älteren Heinrich. Der lebt in Mainz und ist zwei Jahre zuvor zur Apostolischen Gemeinde konvertiert. Marie und er ziehen gemeinsam nach Wiesbaden und bauen dort die apostolische Gemeinde mit auf. Marie bringt etwa im Zweijahresabstand sechs Kinder zur Welt; zwei davon sterben noch im Kindesalter. Die Familie wohnt in der Körnerstraße hinter dem Luxemburgplatz. Heinrich steht der jungen apostolischen Gemeinde vor und wird sie bis 1932 leiten. Marie dürfte sich dabei wohl nicht immer im Hintergrund gehalten haben. Zumindest wird sie in vereinzelten Berichten als „klassische Schwester Vorsteher“ beschrieben. Was das bedeuten könnte, überlasse ich jedoch Ihrer/Eurer Phantasie.
Zwischen 1930 und 1932 kommt es zum Generationenwechsel in der Gemeinde. Unter dem Einfluss eines jungen dynamischen Bezirksevangelisten namens Gottfried Rockenfelder verdoppelt sich annähernd die Zahl der Gläubigen. Marie und Heinrich ziehen aus Wiesbaden weg. Auch über die Gründe für den Umzug lässt sich heute nur noch spekulieren. Marie und er kehren jedenfalls später in das Rhein-Main-Gebiet zurück, wo Marie im Alter von 60 Jahren stirbt.
Aus derselben Generation wie Marie stammt die zweite Persönlichkeit dieses Vortrags:
Anna Bertha Vogel, geborene Enge.
Ich werde sie heute Anna nennen, was sie – Augenzeugenberichten zufolge – tatsächlich gefreut hätte. Denn die meisten sagten immer „Muttchen Vogel“ zu ihr.
Anna stammt aus der heutigen Woiwodschaft Niederschlesien. Sie heiratet den ebenfalls aus Niederschlesien stammenden, in Dresden wohnenden Schneidermeister Oskar Julius Vogel. Gemeinsam ziehen sie nach Dotzheim. Hier hört Anna von einer Schwester Kurandt das erste Mal von der apostolischen Gemeinde. Sie und Oskar lassen sich mit dem Sohn Herbert versiegeln. Dem Sohn Herbert folgen etwa im Dreijahresabstand die Töchter Herta und Elsa. Die Kinder sind noch klein, als sich Anna und Oskar scheiden lassen. Oskar schließt sich den Adventisten an. Anna arbeitet in einem Kinderhort und bringt die drei Kinder allein durch. Ab 1921 gehört sie der neu gegründeten Kirchengemeinde Dotzheim an und zählt damit zum Dotzheimer Urgestein.
Anna lebt für ihre Kinder und Enkelkinder. Diese christlich zu erziehen und mit ihnen zu beten, ist ihr wichtig. Die Benediktinerregel „Bete und arbeite“ – das ist ihr Lebensmotto. Sie hat eine durch und durch liebenswerte Art und ein unglaublich weites Herz. Haben sich die Kinder schon vor Weihnachten einmal an den raren Plätzchen zu schaffen gemacht und raffinierterweise zur Tarnung die Ränder aller Kekse angeknabbert, wird nicht geschimpft. „Das müssen dann wohl „die Mäuschen“ gewesen sein.“ Ist der Schulweg für die Enkel von der Oma aus kürzer als von zuhause, dürfen sie bei der Oma übernachten. Christsein und in die Kirche zu gehen, das gehört für Anna untrennbar zusammen. Noch hochbetagt ist sie bei jedem Gottesdienst dabei. Notfalls steigt sie – Barrierefreiheit ist damals ja noch kein Thema – die Treppe vom Kirchenschiff ins Erdgeschoss rückwärts hinab.
Durchaus bemerkenswert finde ich, dass der Kontakt von Annas Kindern und Enkelkindern zu ihrem Vater bzw. Opa trotz Ehescheidung und unterschiedlicher konfessioneller Wege nie abgerissen ist. So berichtet ihre Enkelin, Schwester Margot Streiber, dass sie nicht nur bei der Oma, sondern auch bei Opa Oskar zu Besuch war. Sich an dieser großzügigen und ökumenisch verträglichen Haltung von Anna ein Beispiel zu nehmen, wäre sicherlich auch für andere Familien in vergleichbaren Situationen ein Segen, gelingt aber bekanntlich nicht immer.
Doch zurück zur Gemeinde Wiesbaden und dem bereits angesprochenen Wachstum in den frühen dreißiger Jahren. Zu denjenigen, die sich zu dieser Zeit der Gemeinde angeschlossen haben, gehört auch Martha Ebert, geborene Oppermann.
Martha ist zwar in Rixdorf bei Berlin geboren, wächst aber in Wiesbaden auf, wo der Vater an der heutigen Erich-Ollenhauer-Straße eine Schreinerwerkstatt betreibt. Sie steckt gerade in einem Teufelskostüm und ist auf dem Weg zum Karneval, als ihr jemand erstmals von der neuapostolischen Kirche erzählt. Sie erhält eine Anstellung im Haushalt des bereits erwähnten Bezirksevangelisten Rockenfelder, der zusammen mit seiner Frau gerade Nachwuchs bekommen hat. Zur Entbindung des eigenen Sohnes Arthur befindet sich nicht nur Martha im Krankenhaus, sondern auch ihr Mann Hermann, dem ein Pferd ins Gesicht getreten und ihn so übel zugerichtet hatte.
Martha ist ein offener, praktischer und zupackender Typ oder, wie es frommere Zeitgenossen ausdrücken, eine Martha, wie sie im Buche steht. Martha hält Kindergottesdienst. Und Martha kümmert sich, wo immer Not am Mann oder an der Frau ist. Zusammen mit einer katholischen Ordensschwester versorgt sie während der Luftangriffe auf Wiesbaden eine hochschwangere Frau. Gott sei Dank ist alles gut gegangen. Denn sonst hätten wir Schwester Annemarie Jorga, das Baby von damals, wohl niemals kennengelernt. Kranken bringt Martha, stets mit dem Fahrrad unterwegs, Suppe vorbei. Aus dem Garten, den sie und Hermann kurz vor der Straßenmühle an der Stelle, wo einmal eine Brücke über den Mosbach ging, bewirtschaften, bekommen diejenigen ab, die noch weniger haben. Für eine junge Familie organisiert sie frische Milch von Dotzheimer Bauern. Den kleinen Frank, der frühmorgens bei Eiseskälte zusammen mit seiner Mutter auf den Bus wartet, der ihn zur Schule für Hörgeschädigte nach Friedberg bringen soll, versorgt sie mit heißem Tee. Die praktische Nächstenliebe und der unerschütterliche Missionseifer von Martha waren offenbar nicht nur für die Mutter von Annemarie Anlass, sich für die Neuapostolische Kirche zu interessieren. Anerkennend berichten ältere Amtsträger, dass Martha vermutlich mehr Menschen zum Glauben gebracht hat als manch einer von ihnen. Ein anderer fasst zusammen: Martha war einfach toll; von dem Typ könnte man heute auch noch ein paar gebrauchen.
Wir kommen zum nächsten Berliner Mädchen. Ottilie Ehmer, oder den meisten nur bekannt als „Tante Otti“. Otti war Kriegerwitwe und kam aus dem ausgebombten Berlin nach Wiesbaden. Hier war sie Teil eines Berliner Mädel-Trios, dem außer ihr noch Schwester Ilse Pohlmann (spätere Bell und heutige Karnick) und Schwester Erika Dittfach angehörten, und die alle in demselben Haus in der Erasmusstraße wohnten.
Tante Otti und der Kinderchor. Das gehörte einfach zusammen. Otti leitete von den frühen 60er bis in die 80er Jahre den Kinderchor der Gemeinde. Sie hat damit Generationen von Kindern musikalisch geprägt. Ihre früheren Sängerinnen und Sänger schwärmen nach wie vor, dass Otti für Kinder wie gemacht war. Wer nach der Kinderchorprobe, die sonntags nach dem Gottesdienst stattfand, nicht anders nach Hause kam, wurde von ihr in ihrem DAF herumgefahren. Später soll es ein dunkelgrüner Citroën gewesen sein. Die Sache mit dem Kinderchor ist tatsächlich so prägend für die Erinnerung an Otti, dass es einiger Recherche bedurfte, um überhaupt herauszufinden, wovon sie gelebt hat. Hier konnte ermittelt werden, dass sie „im Büro“ gearbeitet hat. Tatsächlich war dieses Büro zumindest eine Zeitlang die Kirchenverwaltung Im Wiesengrund in Dotzheim.
Von Otti zur letzten Persönlichkeit des Vortrags ist es nur noch ein kleiner Schritt. Denn wie keine zweite hat diese sich für die Kinder der Gemeinde ins Zeug gelegt. Sie hat Kindergottesdienst gehalten. Sie hat die Vorsonntagschule für die 3-6-Jährigen aufgebaut. Sie hat unzählige Kinderfeste organisiert, die jährlich stattfindende Kinderlesenacht ins Leben gerufen und ist die Erfinderin des „Quetschebrötsche“. Denn wie versorgt man im Garten im Aukamm jedes Jahr eine Heerschar von Kindern mit Kuchen von heimischem Steinobst, ohne zugleich eine Unmenge von Wespen zwischen den Kindern herumfliegen zu haben? Man lege die Zwetschgen nicht auf den Hefeteig, sondern packe sie darin ein. Bei der Erinnerung daran kriegt so manche Endfünfzigerin heute noch leuchtende Augen. Nicht zu vergessen die Tonnen von Plätzchen, die jährlich mit den Jugendlichen der Gemeinde gefertigt wurden, um damit die Senioren zu erfreuen. Mal kamen so wenige Helfer, dass der bereits vorbereitete Teig tags darauf noch allein weiterverarbeitet werden musste. Mal waren es so viele, dass noch Zeit blieb, denjenigen das Spülen beizubringen, die mit dieser Kulturtechnik noch nicht so vertraut waren. Aber immer landete Schokolade auf dem Teppich, so dass es dem Wunder der nicht verrottenden Kleider des Volkes Israel auf der Wüstenwanderung nahekommt, dass dieser so lange hielt.
Die Gemeindemitglieder haben es sowieso schon erraten: Es geht um Ursula Winkelmann. Über sie ließe sich tatsächlich ein eigener Vortrag füllen; deshalb hier nur der Schnelldurchlauf: Aufgewachsen in einem neuapostolischen Haushalt in Wiesbaden. Lehre als Einzelhandelskauffrau bei Karstadt Sport. Selten um eine Antwort verlegen, aber hin und weg von dem ruhigen Niedersachsen Klaus. Eine der unbestechlichsten Geburtstagslisten der Gemeinde: 2 Gläser Marmelade oder Gelee sind garantiert. Aufbau der Seniorennachmittage. Blumenschmuck für den Altar, Putzen der Kirche, Polieren der Messingsäulen. Jüngstes Werk: die Sitzsäcke für den Eltern-Kind-Raum. Einer der von mir Interviewten brachte es auf den Punkt: „Ursula ist, wie ihr Mann Klaus, für alles im Werk Gottes zu gebrauchen.“
Ich komme zum Schluss. Was ist meine persönliche Quintessenz aus der Beschäftigung mit diesen tollen Frauen?
Die christliche Botschaft braucht Menschen, die sie leben. Und Kirche brauchen Menschen, die sich kümmern. Ganz besonders und vor allem um die Kinder. Das macht Gemeinde zu einem Ort, wo sich Menschen zuhause fühlen und wo der nachkommenden Generation ein Kompass mitgegeben und ihr Sprachfähigkeit vermittelt wird. Sprachfähigkeit, um mit Gott und um mit Menschen über den Glauben reden zu können. Kirche lebt also nicht nur von der Leiturgía, sondern auch von der Diakonie, dem Dienst am Nächsten, und von der authentischen Verkündigung im individuellen Beziehungsgeflecht eines jeden einzelnen. Oder um es mit den etwas provokanteren Worten des Theologen Klaus Douglass zu sagen: Schafe vermehren sich durch Schafe, nicht durch Hirten.
In diesem Sinne mag dieser Vortrag helfen, zum einen durch den Blick auf die Frauen unseren Blick zu weiten. Zu weiten auf all das, was über das Gottesdienstgeschehen hinaus Kirche und Gemeinde aus-, attraktiv und zukunftsfähig macht. Wir sollten also nicht nur auf bestimmte Aufgaben oder Dienste schauen, sondern auf die Vielfalt der Gaben und auch auf das, was sich nicht so öffentlichkeitswirksam ist.
Zum anderen mag der Vortrag Anlass sein, nicht bis zum nächsten Jubiläum zu warten, um mal wieder Danke zu sagen. Danke für alle Arbeit, die in der Gemeinde getan wird. Der Dank gilt an dieser Stelle einmal allen Schwestern, die hier in der Gemeinde gewirkt haben oder heute aktiv sind. Den gern gebrauchten Einwand, wir nennen lieber niemanden, schon gar nicht namentlich, um am Ende keinen zu vergessen, möchte ich heute nicht gelten lassen. Denn meines Erachtens wird in Wahrheit nur umgekehrt ein Schuh daraus. Danke zu sagen hilft – auch gegen das Vergessen!
Nicht vergessen möchte ich heute auch, allen zu danken, die mit mir ihre Erinnerungen geteilt haben, damit dieser Vortrag entstehen konnte, und Ihnen/Euch allen für Eure Aufmerksamkeit!
Vielen Dank!
22. August 2023
Text:
Jessica Kriewald
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